99 Gründe glücklich zu sein – Nr. 15

Endlich Dezember. Ein paar Kerzentropfen noch, dann ist Weihnachten. Der November, das war mir vielleicht einer. Durchzogen von einem Infekt, der trotz meiner liebevollen Bebrütung nie so richtig aus dem Ei schlüpfen wollte, angereichert mit einer Art seelischem Wackelkontakt. Nennen wir´s eine Brise Novemberdepression. Dass sich diese Verstimmung auch bei schönster italienischer Septembersonne und allerhöchstens Oktobertemperaturen ausbilden konnte, ist ein sicheres Zeichen dafür, dass sich meine empfindsame, moderne Seele nicht etwa nach Temperaturschwankungen und Wetterlage orientiert, sondern sich nach dem Heiligen gregorianischen Kalender richtet. Bedenklich, irgendwie.

Im November, so sagt man, sind die Wände zum Reich der Toten dünner. Die Toten belauschen uns während wir versuchen, weiter zu machen wie bisher. Im November besucht man die Toten auf ihren Gräbern in der Hoffnung, dass sie einen dann nicht selbst besuchen, sondern da bleiben, wo sie hingehören. IN den Gräbern. Im November schleicht der Tod um die Häuser und da ist es ja auch kein Wunder, wenn man nachts wachliegt, weil man die tränenverschleierten Augen nicht schliessen kann und man von Wahnvorstellungen über das drohende Unglück heimgesucht wird.

Seit einiger Zeit kommt der Tod auch so wieder in Mode. Der Markt hat sich für den Tod geöffnet. Man möchte ihn nun ins Leben integrieren (um daraus Kapital zu schlagen?). Ratgeber und Experten wissen, man muss den Tod als Teil des Lebens betrachten. Es heisst nun, um ein gutes Leben zu führen, müsse man den Tod annehmen, ihn verstehen. Dabei ist der Tod doch gerade das Unverstehbare, Unfassbare, das Unsagbare. Auch ich bin der Meinung, dass ein gelingendes Leben ein endliches ist. Aber, den Tod annehmen heisst vielleicht gerade, ihn nicht verstehen zu wollen. Als Gegenwartspessimistin sehe in der Vorstellung, der Tod müsse verstanden sein, nur ein weiteres Zeichen für den Beherrschbarkeitswahn des 21. Jahrhunderts. Denn auch an der Unendlichkeit des Lebens wird kräftig gearbeitet. Und vielleicht hat das alles mehr miteinander zu tun als es scheint.

Nun aber, da der November sich in seiner transzendentalen Funktion enthüllt hat, der Dezember eine goldene Schleife um unsere irrationalen Ängste bindet und wir, eingetaucht in vorweihnachtlichen Kerzenschimmer und Lebkuchenduft kaum mehr Zeit zum klaren Denken finden, ist es Zeit, sich wieder einmal dem Glück zu widmen.

Denn das Glück ist mir widerfahren, eines Abends im November. Da nämlich zeigte der besagte Infekt Erbarmen mit meinem lauernden Körper und ich durfte mich endlich mit klappernden Zähnen und Gliederschmerzen ins Bett legen. Auch den nächsten Tag verbrachte ich im Bett und da geschah es, dass ich das Glück der Katharsis erleben durfte.

„Katharsis“ ist ein Begriff aus der antiken Theaterwalt. Aristoteles bezeichnete damit einen Reinigungseffekt, der im Zuschauer durch die künstlerische Präsentation einer Tragödie hervorgerufen wird. Furcht und Mitleid sollten auf den Zuschauer so erschütternd wirken, dass sich sein psychischer Zustand veränderte. Der Zuschauer sollte geläutert aus dem Theatron stolpern um fortan ein anderer, ein besserer Mensch zu sein. Empfindsame Menschen dürften solches auch schon im Kino erlebt haben, wenn sich nämlich die Kamera, durch das allzu distanzlose und emotionale Zeigen, die Gefühle des Zuschauers aneignet.

Nicht zu verwechseln ist die Katharsis mit der Epiphania. Bei der Epiphania handelt es ich um eine stark vertikal ausgerichtete Fahrt gen Himmel, welche nur durch starkes Beten und Enthaltsamkeit erfahren wird. Das Wunder der Katharsis kann bereits ein Tag Unpässlichkeit im Bett bewirken. Denn plötzlich, nach einigen Stunden der Selbstbemitleidung, fühle ich mich geläutert und geklärt und beschliesse, von nun an glücklich zu sein, ein gutes Leben zu führen und vor allem weiter zuversichtlich Glücksgründe zu sammeln. Was ein gutes Leben ist, dazu komme ich beim nächsten Mal.